Wer bestimmt, was krank ist?
Das westliche Verständnis von Krankheit ist eindeutig:
Krankheit ist Leiden. Doch steckt wirklich hinter jedem Leiden
eine Krankheit? Welche Folgen hat es, wenn jedes subjektive
Missempfinden pathologisiert wird? Der renommierte Psychiater
Daniel Hell skizziert die Auswirkungen des spätmodernen
Krankheitsbegriffs und zeigt die vielfältigen Einflüsse
und Interessen auf, denen dieser Begriff unterliegt
Wenn sich heute ein Mensch krank fühlt, so sucht er
meist nach einer medizinischen Erklärung seines Zustandes.
Er verbindet sein Leiden mit einer Krankheitsvorstellung.
Das war nicht immer so. Im Mittelhochdeutschen hatte das Wort
kranc ursprünglich die Bedeutung von schwach,
gering, leidend. Es bezeichnete ein subjektives Empfinden
– nämlich Leiden – und ein objektives Verhältnis
zu anderen Menschen – nämlich Schwäche, Gebeugtsein.
Das Wort kranc war nicht an ein explizites Krankheitskonzept
gebunden, sondern war eher Ausdruck eines zwischenmenschlichen
Verhaltens.
Ein Blick in die Geschichte zeigt in aller Deutlichkeit,
dass sich die Krankheitsvorstellungen von Epoche zu Epoche
und von Kultur zu Kultur unterscheiden. Zwar kennen wohl alle
Kulturen Ausdrücke für Gebrechen und Leiden, doch
werden diese Phänomene höchst unterschiedlich interpretiert.
Was als krank angesehen wird und was nicht, unterliegt einem
komplexen gesellschaftlichen und kulturellen Prozess, der
von vielen Einflüssen abhängig ist.
Auch in unserer spätmodernen Zeit ist nicht immer klar,
wie es zu einer bestimmten Krankheitsdefinition kommt. Fest
steht aber, dass soziokulturelle, wirtschaftliche sowie medizinisch-technische
und institutionelle Einflüsse dazu beitragen. Sie sollen
im Folgenden dargestellt und an Beispielen illustriert werden.
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Soziokulturelle Einflüsse
Eine Reihe von Humanwissenschaften (wie zum
Beispiel Philosophie, Soziologie und Geschichte) beschäftigen
sich mit dem Zusammenhang zwischen Sozialgeschichte
und den jeweils vorherrschenden Vorstellungen vom
gesunden und kranken Körper. Sie machen deutlich,
dass das medizinische Verständnis des Körpers
keineswegs von sozialen Wertvorstellungen unabhängig
ist. Vielmehr wird der Körper wie ein Text in
kulturell vorbestimmter Weise gelesen. Die Kulturabhängigkeit
des Bildes vom Körper zeigt sich zum Beispiel
darin, dass in den letzten Jahrzehnten in den westlichen
Industrienationen das Schlankheitsideal den Wunsch
nach körperlicher Fülle abgelöst hat
und sich parallel dazu als Extremform das Krankheitsbild
der Anorexie – vor allem unter weißen Frauen
der Mittel- und Oberschicht – ausgebreitet hat. Das
Bild vom Körper hat sich auch unter naturwissenschaftlichem
Einfluss gewandelt. Der Körper wird vermehrt
als Objekt wahrgenommen. Anders als früher ist
der Körper nicht mehr in erster Linie erfahrbarer,
„beseelter“ Leib, sondern materieller Körper,
ein body . Als solcher ist er vor allem ein
Objekt der optischen Wahrnehmung.
Der Bruch mit der Vergangenheit zeigt sich zudem
darin, dass der Körper – kosmetisch, durch Bodybuilding
oder Fitnesstraining, chirurgisch – formbar und zu
etwas selbst Geschaffenem wird. Er dient als Kennzeichen
des einzelnen privatisierten Individuums und wird
häufig wie eine fleischliche Hülle, gleichsam
ein selbst geschaffenes Kleid präsentiert. Dieses
Körperverständnis erleichtert unter anderem
das Entstehen anorektischen Verhaltens. Wenn eine
Person ihre körperlichen Empfindungen als inakzeptabel
beurteilt, kann sie diese Ablehnung „unter dem Deckmantel
des modernen Schlankheitsideals“ leichter zum Ausdruck
bringen.
Während sich im Falle der Anorexie illustrieren
lässt, wie sich ein Krankheitsbild den soziokulturellen
Bedingungen anpasst, zeigt das Beispiel der Schizophrenie,
wie soziokulturelle Einflüsse das Entstehen von
Krankheitskonzepten mitbedingen.
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Prof. Dr. med. Daniel Hell
"Das westliche Verständnis
von Krankheit ist eindeutig: Krankheit ist Leiden. Doch
steckt wirklich hinter jedem Leiden eine Krankheit?"
Daniel Hell , geboren 1944,
ist Professor für klinische Psychiatrie und Direktor
an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt auf der
Erforschung und Behandlung von Depressionen.
Klinik für affektive Erkrankungen
und Allgemeinpsychiatrie ZH Ost
Lenggstrasse 31, Postfach 1931,
CH - 8032 Zürich
Telefon:++41 (0)44 384 23 12
http://www.pukzh.ch/
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Das Krankheitskonzept der Schizophrenie wurde von Emil Kraepelin
vor 100 Jahren unter dem Namen Dementia praecox in der Psychiatrie
eingeführt. Kraepelins Konzeption war von einem ausschließlich
biomedizinischen Denken geprägt, das im Übergang
vom 19. zum 20. Jahrhundert vorherrschend war. Danach ist
seelische Krankheit „eine Störung normaler Funktionsabläufe
im Gehirn“. Kraepelin war überzeugt, dass sich bei Schizophreniekranken
eine anatomisch greifbare Basis finden lasse. Konsequenterweise
konzentrierte er sich bei der Beschreibung dieser Kranken
ausschließlich auf äußerliche Symptome und
Verlaufsbeobachtungen und sah vom inneren Ringen der Betroffenen
ab.
Dieses innere Ringen wurde erst vom Zürcher Psychiater
Eugen Bleuler betont. Er gab der Krankheit auch den heutigen
Namen Schizophrenie. Für Bleuler stand nicht mehr der
Krankheitsverlauf als diagnostisches Kriterium im Vordergrund,
sondern die „psychische Spaltung“, die innere Zerrissenheit,
das auffällig Zwiespältige in den Äußerungen
und im Verhalten dieser Kranken.
Bleuler suchte das damals herrschende biomedizinische Modell
durch psychoanalytische Gedanken zu erweitern. Nach Sigmund
Freud entstehen psychische Erkrankungen als Folge innerer
Konflikte oder einer unvereinbaren Interessenkollision. Sie
zeigen sich in einer Störung der Liebes- und Arbeitsfähigkeit.
Interessanterweise waren in Kunst und Literatur am Beginn
des 20. Jahrhunderts, als Bleuler den Begriff Schizophrenie
schuf, Fragen der Ich-Auflösung und Dissoziation bevorzugte
Themen. „Man könnte auf den Gedanken kommen, dass Eugen
Bleuler nicht nur von den Mitteilungen seiner Patienten zur
Erfindung des Schizophreniebegriffs angeregt worden sei, sondern
dass die Vorstellung einer gespaltenen Seele auch von der
Literatur in die Psychiatrie gelangt sei und bei der Entstehung
des Krankheitsbegriffs mitgewirkt habe“, schrieb der Psychiater
Leo Navratil im Jahr 1992.
Die Bleulersche Konzeption gab dem inneren Erleben der Schizophreniekranken
Raum und ermöglichte psychodynamische Deutungsversuche.
Sie hatte aber den Nachteil, den Krankheitsbegriff stark auszudehnen
und keine klare Abgrenzung zu anderen Störungen zu ziehen.
Das hatte zur Folge, dass in der Mitte des 20. Jahrhunderts
amerikanische Psychiater doppelt so viele Menschen als schizophren
einschätzten wie ihre britischen Kollegen.
Dieser Missstand wurde besonders störend, als soziologisch
inspirierte Autoren in den 1960er und 1970er Jahren der Psychiatrie
vorwarfen, abweichendes Verhalten als krank zu etikettieren
und mit diesem Label eine gesellschaftliche Kontrollfunktion
auszuüben. Der Kranke erhalte zum Beispiel durch die
Diagnose „Schizophrenie“ ein Etikett, das sein weiteres Rollenverhalten
– auch im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung
– entscheidend beeinflusse. Damit würden Menschen stigmatisiert
und ausgegrenzt.
Die breite gesellschaftliche Kritik an den Diagnosen und
den Betreuungsbedingungen in psychiatrischen Institutionen
führte Ende des 20. Jahrhunderts zu einem weiteren Versuch,
die schizophrene Erkrankung neu zu definieren. Diesmal sollte
die Definition vor allem eine gute Übereinstimmung zwischen
Experten erreichen, um den Kriterien der Wissenschaftlichkeit
zu entsprechen. Das 1980 erstmals von der Amerikanischen Gesellschaft
für Psychiatrie entwickelte neue Modell (Diagnostisches
und Statistisches Manual Psychischer Störungen – DSM-III)
geht von einer Reihe von Symptomen aus, die allerdings über
eine bestimmte Zeit vorhanden sein müssen. Die Erfassung
dieser Symptome erlaubt nicht nur eine bessere Operationalisierung
der Diagnose und damit eine globale Vergleichbarkeit von Befunden.
Sie kommt auch einer postmodernen Tendenz entgegen, von einem
einheitlichen Erzählstrang abzusehen und sich auf codierbare
Eigenschaften, die digital verrechenbar sind, zu konzentrieren.
Der Nachteil dieses auch von der Weltgesundheitsorganisation
in der „Internationalen Klassifikation psychischer Störungen“
(ICD-10) übernommenen Vorgehens liegt darin, dass zwar
die Übereinstimmung der Krankheitsdiagnose – die so genannte
Reliabilität – weltweit verbessert werden konnte, der
Aussagewert einer solchen Krankheitsdefinition – die so genannte
Validität – aber immer unklarer wird.
Wirtschaftliche Einflüsse
Das Krankheitsverständnis der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) setzt Krankheit mit Leiden gleich. Darin spiegelt sich
die westliche und spätmoderne Hochschätzung von
Glück. Eine solche Wertung wird nicht von allen Kulturen
geteilt. Viele sehen im Leiden eher eine Herausforderung als
eine Krankheit. Doch kommen über das globalisierte Krankheitsverständnis
der WHO auch östliche und afrikanische Kulturen – und
christlich-konservative Kreise in Europa – unter den Einfluss
dieser Werthaltung. Darin liegt nicht nur eine Chance, sondern
auch eine Gefahr. Wenn Leiden reduktionistisch mit Krankheit
gleichgesetzt wird, werden ebenfalls leidvolle Reaktionen
auf Ungerechtigkeit, auf ein Trauma oder auf chronische Überlastungen
pathologisiert. Im Roman Brave New World von Aldous Huxley
sagt der Controller über die perfekte (und utopische)
Droge „Soma“, die jedes Unwohlsein ohne Nebenwirkungen umgehend
beseitigt: „Der Weltstaat weiß nun, wie man jedermann
glücklich und gehorsam hält.“ Wenn der
Kult um die Gesundheit immer mehr die Stelle einnimmt, die
früher die Kirche mit religiösen Ritualen innehatte,
muss sich die Medizin auch die Frage stellen, wie sie vermeiden
kann, angesichts wachsender sozialer Not als Opium des Volkes
benützt zu werden.
Zweifellos bringt die generalisierte Pathologisierung des
Leidens für die Gesundheitsindustrie, von der Medizin
und Psychiatrie nur ein Teil sind, finanzielle Vorteile mit
sich. Neben Lifestyledrogen finden Medikamente zur Beseitigung
von depressiven und Angststörungen einen größeren
Markt. David Healy beschreibt in seinem Buch The antidepressant
era (Harvard University Press 1999), wie es der Pharmaindustrie
gelingt, Einfluss auf die Formulierung von Krankheitsbildern
und diagnostischen Kriterien zu nehmen. Es ist nicht nur wissenschaftlichen
Entdeckungen und klinischen Fortschritten zu verdanken, dass
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nacheinander
die Diagnose der Depression, der Panik, der Zwangsstörung,
der sozialen Phobie und schließlich der bipolaren Störung
in bestimmter Weise konzeptualisiert und dann – zuerst unter
Ärzten, dann unter Laien – popularisiert wurde. War im
Jahre 1980 die Panikstörung praktisch unbekannt, wird
diese Diagnose heute bei ungefähr vier Prozent der Bevölkerung
gestellt. Es gehört zu den Gesetzmäßigkeiten
der freien Marktwirtschaft, dass Unternehmen versuchen, für
ihre Produkte einen Markt zu schaffen. Dabei ist eine Marketingstrategie
häufig effektiver, wenn sie sich nicht nur auf den Verkauf
eines bestimmten Medikamentes fokussiert, sondern wenn sie
zunächst eine Krankheit bekannt macht und damit die Indikation
zu einer bestimmten Behandlung verkauft. Nach Entdeckung der
Antidepressiva um 1957 wurde zunächst der Depression
und ihrer Behandlungsindikation viel Aufmerksamkeit zuteil,
dann in den 1980er Jahren die Diagnose der Panikstörung
im Zusammenhang mit Alprazolam (Xanax), die Zwangsstörung
mit der Indikation zur Clomipramin-Behandlung und die soziale
Phobie als Anwendungsgebiet unter anderem von reversiblen
MAO-Hemmern popularisiert. Am bekanntesten ist die Werbung
für Prozac als „Glückspille“ im Sinne einer Art
„kosmetischen Psychopharmakotherapie“ durch Peter Kramer mit
seinem Bestseller Listening to Prozac (deutsch: Glück
auf Rezept ) geworden. David Healy schreibt dazu: „Angesichts
der vielen Revisionen der psychiatrischen Diagnostikmanuale
in den letzten 30 Jahren ist es eindeutig ein Fehler zu glauben,
dass psychische Erkrankungen etwas sind, das einer etablierten
Wirklichkeit entspricht, und dass die Rolle eines pharmazeutischen
Unternehmens darin liegt, den Schlüssel zu finden, der
zu einem vorbestehenden Schloss passt, oder die Kugel, die
ein objektives Ziel trifft. Obwohl es viele psychobiologische
Inputs zu vielen psychiatrischen Störungen gibt, sind
wir derzeit in einer Lage, wo industrielle Unternehmen nicht
nur den Schlüssel zum Öffnen des Schlosses suchen,
sondern ein großes Stück weit diktieren können,
welche Form das Schloss hat, in das der Schlüssel passen
muss.“
Medizinisch-technische und institutionelle Einflüsse
Neben dem Einfluss der pharmazeutischen Industrie auf die
Konzeptualisierung von Krankheitsbildern ist auch das Interesse
anderer Organisationen im Gesundheitswesen an bestimmten Krankheitsmodellen
zu beachten. Die Entwicklung von elaborierten Diagnoseschemata
und die stete Zunahme psychiatrischer Diagnosen in den letzten
30 Jahren – von 180 im Jahre 1972 (DSM-II) auf über 350
im Jahre 1994 (DSM-IV) – bringt Ärzten und Therapeuten
Vorteile. Die diagnostische Differenzierung wird aber auch
vielen Patienten besser gerecht.
In einer zunehmend wissenschaftlich geprägten Zeit hat
sich die Psychiatrie den Standards der evidenzbasierten Medizin
anzupassen, um glaubhaft zu bleiben. Sie profitiert in diesem
Zusammenhang auch von den Fortschritten der Neurowissenschaften,
denen es dank bildgebender Techniken gelingt, physiologische
und biochemische Veränderungen im Gehirn darzustellen
und mit bestimmten Symptomen (wie Zwängen oder Sinnestäuschungen)
zu korrelieren. Am neurobiologischen Fortschritt sind zu Recht
auch Patienten- und Angehörigenorganisationen interessiert.
Neurowissenschaftliche Grundlagenforschung wie auch kontrollierte
Behandlungsstudien verlangen aber nach eindeutig festgelegten
Störungsmustern. Aus ganz andern Gründen erheben
Versicherungsgesellschaften eine analoge Forderung. Sie zwingen
Ärzte und Therapeuten auch dann zu standardisierten Diagnosen
und Therapien, wenn die Komplexität des Falles einem
solchen Vorgehen entgegensteht. Diese Konstellation hat den
immanenten Nachteil, dass immer mehr psychosoziale Probleme
in ein vereinfachtes biomedizinisches Konzept von „Depression“
oder „Angststörung“ gebracht werden und ausschließlich
mit Antidepressiva behandelt werden. Wie zu Kraepelins Zeiten
werden dadurch die immer größer werdenden Sozialprobleme
zunehmend medizinalisiert – von den Ärzten auch in der
Hoffnung, damit wenigstens etwas zur Linderung der Not beitragen
zu können.
Den Patienten geht es aber letztlich um weit mehr: Ihr Leiden
ist auch ein Aufschrei. Es macht auf etwas aufmerksam, was
ihnen zu schaffen macht oder nicht in Ordnung ist. Wenn das
Leiden selbst psychopathologisch wird, indem man es – beispielsweise
– zur Volkskrankheit „Depression“ macht, hat dieses Vorgehen
auch eine verbergende oder zudeckende Funktion. Es kommt zu
einer Symptombehandlung. Dabei könnte mitspielen, dass
in einer spätmodernen Gesellschaft mit der globalen Hochschätzung
von Flexibilität, Teamfähigkeit und raschem Handeln
die depressive Verlangsamung und Introversion ähnlich
inakzeptabel ist wie im Spätmittelalter die spirituelle
Trägheit (die Todsünde Acedia).
Die verbreitete Umformung persönlichen Leidens in Krankheitssymptome
dürfte auch damit zu tun haben, dass die moderne Medizin
sich einer Perspektive von außen verschrieben hat und
dem Phänomen des Leidens als Erleben aus erster Hand,
aus der so genannten Perspektive der ersten Person, hilflos
oder abwehrend gegenübersteht. Aus einer solchen Außenperspektive
stellt sich nicht mehr die Frage, wozu Leiden allenfalls verhelfen
kann, sondern nur jene, warum als krank beurteilte Symptome
aufgetreten sind und wie sie sich therapeutisch beseitigen
lassen.
Leiden ist aber auch Zeichen einer Widerständigkeit
des Subjekts und potenzieller Ausgangspunkt einer persönlichen
Entwicklung beziehungsweise einer individuellen Gegenbewegung,
die sich den Folgen sozialer und körperlicher Missstände
stellt. Leiden ist als Mitleiden und Mitgefühl zudem
zwischenmenschliche Antwort auf das Leiden anderer Menschen.
Nur wer sich dem Mitmenschen versagt, entgeht auch dem Mitleiden.
Die Sozialwissenschaftlerin Marianne Gronemeier schreibt:
„Das Leiden kann nicht besiegt werden, aber das Bemühen,
sich seiner zu entledigen, ist in einer Hinsicht höchst
erfolgreich: Das Mitleid wird beseitigt.“
Wenn Leiden nur als krankhaft oder pathologisch angesehen
wird, ist Anteilnahme am Leiden unsinnig, ja ebenfalls krankhaft.
Es herrscht dann eine aseptische Weltsicht vor, eine ausschließliche
Außensicht, die jeden Sinnes beraubt ist. Paradoxerweise
führt erst die mitfühlende Anteilnahme dazu, dem
Leiden einen Sinn zuzuschreiben, nämlich jenen, das Leiden
der Mitmenschen zu verringern. Ohne dieses Mitleid wird der
Leidende zu einem Objekt der Besserung, zu einem fehlerhaft
funktionierenden Organismus, der gemaßregelt, repariert
oder mit instrumenteller Vernunft behandelt werden muss.
Was bringt die Zukunft?
Was bringt die Zukunft? Vieles spricht dafür, dass der
weitere Fortschritt in der Forschung in den nächsten
Jahren die großen Krankheitseinheiten „Depression“ und
„Schizophrenie“ in umschriebene Teilleistungsstörungen
auflösen und ein weites Feld an mehr psychosozialen Belastungsfaktoren
kenntlich machen wird. So berechtigt es ist, die großen
Krankheitseinheiten aufzulösen, so wichtig wird es sein,
den einzelnen Menschen mit seiner jeweiligen Disposition,
Biografie, sozialen Umgebung und seinen persönlichen
Bewältigungsstrategien ins Zentrum der Therapie zu stellen.
Denn die praktische Erfahrung und die unterschiedlichsten
Untersuchungsansätze weisen in aller Deutlichkeit darauf
hin, dass die meisten Menschen weniger an einer isolierten
(kategorial fassbaren) Störung als an einer mehrschichtigen
(dimensional bestimmbaren) Problematik leiden. So haben beispielsweise
Angst und Depression mehr miteinander zu tun, als die isolierten
Diagnosen „depressive Episode“ und „Angststörung“ vorgeben.
Auch darf erwartet werden, dass die verhaltensorientierte
Ausrichtung der letzten Jahre in Zukunft von erlebensorientierten
Therapieansätzen vertieft werden wird. Es zeichnet sich
schon heute ab, dass nach dem Triumph der Außenperspektive,
der durch technische Fortschritte mitbedingt war, wieder ein
Besinnen auf die menschliche Innenperspektive eintreten dürfte.
Angst oder depressive Leeregefühle sind ja nicht einfach
neurophysiologisch abbildbar, sondern letztlich nur erlebbar.
Die Problematik von Angst und Depression kann eher noch zunehmen,
wenn sie nur als etwas vorgestellt wird, das einen Menschen
von außen (bzw. einem veräußerlichten Innen)
– hervorgerufen von einer dämonischen Macht oder einem
fehlerhaften Transmitter – ergreift. In meiner psychiatrisch-psychotherapeutischen
Praxis erfahre ich immer wieder, welchen Gewinn gerade Menschen
mit bisher ungünstig verlaufenden Depressionen oder Angststörungen
haben, wenn sie sich selbst besser und gemüthafter erfahren
können – sogar, wenn die Gefühle schmerzhaft oder
unangenehm sind. Sie werden dann zu Gemütsinseln inmitten
depressiver Leere.
Es scheint mir auch irreführend zu sein und einer sich
selbst erfüllbaren Prophezeiung gleichzukommen, wenn
das wiederholte Auftreten von Krankheitsepisoden ausschließlich
als phasischer Verlauf beschrieben wird, ohne zu merken, dass
sich das scheinbar kreisförmig Wiederholende zu einer
Spirale öffnen und eine innere Dynamik widerspiegeln
kann. Neben allem Handwerklichen ist Psychotherapie auch Kunst
– und sei es die Kunst, an der Kreativität eines Hilfe
suchenden Menschen Anteil zu nehmen. Der Therapeut darf sich
nicht rauben lassen, was ihn auszeichnet. Dazu gehört
die Fähigkeit, Widerstand zu leisten: Widerstand gegen
Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Ver- und Entfremdung, aber
auch Widerstand gegen eine wissenschaftliche Reduktion des
Menschen auf eine Funktion oder gegen die generelle Versuchung
einer narzisstischen Reduktion des Menschen auf sich selbst.
Gesamter
Bericht "Wer bestimmt, was krank ist?." als PDF
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Quelle:
Möchten Sie noch mehr wissen?
Die Krankheitserfinder.
von Blech, Jörg;
Wie wir zu Patienten gemacht werden. |
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