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Die Farma-Industrie
Urs P. Gasche


Die Weltwoche, 6. Juli 2006;
Seite 30; Nummer 27

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Heute ist ein guter Tag, mit einem Gerücht aufzuräumen: Schweizer sind nicht krank, weil sie krank sind. Sondern weil Ärzte, Apotheker und Pharmamanager ihnen das oft nur einreden. Warum die das tun? Nur Patienten schlucken jede neue Pille und jeden Unsinn.

In Japan entwickeln die Elektronikfirma Matsushita und der Sanitärkonzern Toto ein Hightech-WC, das regelmässig den Urin analysiert, den Blutdruck misst und den Stuhl untersucht. Elektroden in der WC-Brille messen zudem die Körperfettwerte. Die Ergebnisse übermittelt das Klosett direkt dem Hausarzt. Weichen die Werte von den Idealwerten ab, lädt der Arzt den WC-Benützer als Risikopatient in seine Praxis.

Bis das japanische Diagnose-Klo den Markt erobert, werden wohl noch einige Jahre verstreichen. Aber schon heute gibt es bald keine Gesunden mehr, sondern nur noch schlecht Untersuchte. Die Diagnostik wird ständig verfeinert, die Zahl der Risikofaktoren und der Behandlungen vervielfacht. Die Dichte der Arztpraxen in der Schweiz hat sich in den letzten dreissig Jahren verdoppelt, und damit stieg auch die Zahl der Diagnoseuntersuchungen und Therapien entsprechend an. Der Aufwand ist gigantisch. Bereits jeder achte Franken wird für die «Gesundheit» ausgegeben, pro Haushalt im Schnitt 17 000 Franken pro Jahr. Damit ist die Schweiz Europameisterin und weltweit nach den USA auf Platz zwei.

Das jährliche Wachstum der Gesundheits- respektive der Krankheitsindustrie hat mit der körperlichen und psychischen Gesundheit, um die es eigentlich gehen sollte, längst nichts mehr zu tun. So verschreiben Waadtländer Ärzte, in Franken gemessen, fünfzig Prozent mehr kassenpflichtige Leistungen pro Kopf der Bevölkerung als die Ostschweizer Ärzte. Doch die Waadtländer, das zeigen Befragungen, fühlen sich deswegen nicht gesünder und sind es auch nicht.

Solche Ungereimtheiten sind für die Gesundheitsindustrie kein Thema. Diese profitable Wachstumsbranche lebt schliesslich nicht von zufriedenen Gesunden, sondern von Kranken und von Menschen, die Angst haben, krank zu werden. Also suggeriert sie den sorglos Lebenden, sie bildeten sich bloss ein, gesund zu sein. In Wirklichkeit seien sie bereits krank oder würden ihre erhöhten Risiken für bald auftretende Krankheiten nicht kennen.

Der deutsche Professor, Buchautor und Psychiater Klaus Dörner kritisiert, dass die Gesundheitsindustrie alle Gesunden in Kranke umwandle, also in Menschen, die sich möglichst lebenslang chemisch-physikalisch und psychisch therapieren, rehabilitieren und präventiv behandeln lassen, damit sie «gesund leben» können. «Man kann viel Geld machen», kommentierte auch das British Medical Journal, «indem man Gesunde überzeugt, sie seien krank.»

Sobald ein Gesunder einen Arzt aufsucht, ist er im Sprachgebrauch der Ärzte kein Kunde, sondern ein Patient. Um dieses «Patientengut» wetteifern die ärztlichen Fachgesellschaften, Pharmafirmen und Hersteller von Medizinalprodukten mit kühnen Schlagzeilen, die die Medien gern verbreiten. Sie rücken damit ihre jeweiligen Disziplinen und Produkte in den Vordergrund und zeichnen ein schwarzes Bild vom helvetischen Gesundheitszustand.

1,4 Millionen Schweizerinnen und Schweizer leiden angeblich an chronischen Schmerzen, 900000 an einem Reizdarm, 740 000 an einer Unterfunktion der Schilddrüse, 500 000 plagt die Inkontinenz, 400000 eine Diabetes, 365 000 befinden sich in einer behandlungsbedürftigen Depression, 150 000 klagen über Schuppenflechte, und 70 000 sollen ein offenes Bein haben. Nicht zu vergessen die Schlagzeilen über die vielen Krebserkrankungen von der Lunge über die Brust bis zur Prostata und dem Darm. Die Schweiz, ein Lazarett.

Und auch den Gesunden, die übrig bleiben, droht eine tödliche Krankheit, glaubt man der Gesundheitsindustrie. Fast zwei Millionen hätten, heisst es, einen zu hohen Blutdruck, einen zu hohen Cholesterinspiegel oder beides zusammen. Sie sollten täglich Medikamente schlucken, doch tun es längst nicht alle.

Wenig bekannt: der Reizdarm

Der medizinische Aktivismus ist enorm. Wir Schweizerinnen und Schweizer werden viel häufiger durch Computer- und Kernspintomographen oder andere geschleust als etwa die Finnen, Dänen, Holländer und Schweden. Wir werden auch viel häufiger operiert. Trotzdem fühlen wir uns nicht gesünder ­ und sind es auch nicht. Im Gegenteil: Wir liegen häufiger und länger im Spital als die Nordländer, leiden viel häufiger an Operationsfolgen, müssen mehr Medikamente einnehmen und leiden an entsprechend mehr Nebenwirkungen.

Darüber schweigen die meisten Schweizer Ärzte, weil sie mit jeder Konsultation, jeder Arztkontrolle, jeder Diagnostik und mit jeder Therapie ihr Einkommen aufbessern können. Deshalb stellten sie auch massenweise Rezepte für Tamiflu aus, obwohl sowohl die FMH als auch das Bundesamt für Gesundheit davon abgeraten hatten. Anders in Holland, Finnland, Schweden, Dänemark und Norwegen, aber auch in Spanien und England: Dort erhalten fast alle Ärzte einen fixen Lohn oder eine fixe Summe pro Patient. Sie können ihr Einkommen nicht mit Mehr- und Überbehandlungen erhöhen.

Das «lukrative Geschäft mit der Angst», wie es der Hamburger Medizinprofessor und Buchautor Volker Fintelmann nennt, fördere «ängstlich-neurotische Verhaltensweisen». Tatsächlich sind viele Zahlen aufgebauscht. Wer sich wichtig machen, die Umsätze erhöhen oder Forschungsgelder locker machen will, verkauft waghalsige Schätzungen als gesicherte Statistiken.

Beispiel chronische Schmerzen: Die Interessengemeinschaft Chronischer Schmerz gab die Zahl der betroffenen Schweizer vor drei Jahren mit «rund 700 000» an: «Sie leiden, obwohl sie dank moderner Behandlungsmethoden und Medikamente Linderung erfahren könnten.» Unterdessen hat die Interessengemeinschaft die Zahl verdoppelt: «Jede fünfte Person in der Schweiz leidet während durchschnittlich sieben Jahren an chronischen Schmerzen.»

Hinter dieser «Interessengemeinschaft» stecken Schmerzmittelhersteller, Ärzte und Apotheker. Deren Sprecherin Jacqueline Wettstein vom Zuger PR-Büro Knobel erklärt die 1,4 Millionen wie folgt: Eine europäische Pharma-Umfrage habe nach Schmerzen gefragt, die länger als sechs Monate dauerten. Das sei bei 16 Prozent aller erwachsenen Schweizer der Fall gewesen. Die Interessengemeinschaft betrachte Schmerzen jedoch bereits als chronisch, wenn diese mindestens drei Monate lang anhielten. Dank diesem Ausweiten der Diagnose komme eine «Hochrechnung» dann auf 20 Prozent aller Schweizer oder eben auf 1,4 Millionen.

Zum gleichen Trick greift die «Aktion nomig ­ Informationsplattform für Menschen, die mit Migräne leben», die von der schwedisch-britischen Firma Astra-Zeneca gesponsert wird. In Medien verbreitet sie, dass es in der Schweiz «nahezu 1,5 Millionen Migränepatienten gibt». Sie erweckt damit den falschen Eindruck, dass gegenwärtig zwanzig Prozent der Bevölkerung an Migräne leiden. In Wirklichkeit sind alle mitgezählt, die irgendwann einmal Kopfschmerzattacken hatten. Diese Zahl, die aus dem Ausland stammt und von der «Aktion nomig» für die Schweiz «hochgerechnet» wurde, ist übertrieben. Die Koryphäe unter den Neurologen, der Essener Professor Hans-Christoph Diener, sagt, es würden lediglich zwölf Prozent der Bevölkerung im Lauf ihres Lebens mit Migräneattacken konfrontiert. Migräne sei «nicht heilbar», lautet die Hiobsbotschaft, doch man könne «trotz Migräne eine gute Lebensqualität erreichen». Den Namen des Migränemedikaments Zomig nennt die «Aktion nomig» nicht, weil die Herstellerin Astra-Zeneca für dieses rezeptpflichtige Arzneimittel keine Werbung machen darf.

Der Kampf um Marktanteile verleitet regelmässig zu Übertreibungen.

Beispiel Altersdiabetes: «Eine absolute Epidemie bahnt sich an», verkündete TV-Doktor Samuel Stutz vor sechs Jahren. 250 000 Schweizer seien in Behandlung, und Novartis orte eine Dunkelziffer von weiteren 150000. Zum Glück kämen vier neue Medikamente auf den Markt, beruhigte Stutz.

Beispiel Blasenschwäche: An Inkontinenz leiden «rund 500 000» Schweizer. «Aus falscher Scheu» würden sie jedoch nicht dazu stehen, schreibt die Apothekerzeitung Astra. Das Blatt verschweigt, dass die Krankheitszahlen von Windelherstellern stammen, deren Inserate Astra neben dem Inkontinenzartikel platzierte.

Beispiel Reizdarm: «Jeder achte Schweizer leidet an Reizdarm oder 'Irritable Bowel Syndrome' (IBS), verbreitet Novartis, Herstellerin des Reizdarmmedikaments Zelmac. In den USA sei jeder fünfte Mann und jede fünfte Frau betroffen. Ob «jeder Achte» oder «jeder Fünfte» an einem bestimmten Stichtag an Reizdarm leidet oder nur einmal im Leben, will Novartis nicht präzisieren. Eine vom Basler Pharmakonzern unterstützte «Interessengemeinschaft Magen-Darm» bedauert im Internet und in Communiqués, dass der Reizdarm «in der Bevölkerung wenig bekannt» sei, und insistiert, dass «die Symptome einem medizinisch anerkannten Krankheitsbild entsprechen». Doch Reizdarm ist weder ein Vorläufer von Krebs noch von einer anderen ernsthaften Krankheit. Man versteht darunter schlicht länger auftretende Blähungen, Verstopfungen, Durchfall oder Bauchschmerzen.

Der Reizdarm sei ein Beispiel von sickness sells (Krankheit verkauft), schreibt das deutsche Arznei-Telegramm, ein unabhängiger Informationsdienst über Nutzen und Risiken von Arzneimitteln. Milde Symptome eines gutartigen Leidens würden zu einer schweren Krankheit hochstilisiert. Novartis erwidert, der Reizdarm könne die Lebensqualität stark beeinträchtigen. Vor zwei Jahren trat übrigens Astra-Zeneca der Interessengemeinschaft Magen-Darm bei. Seither sorgt sie sich auch um das Magenbrennen, weil «viele von Reizdarm betroffene Personen zusätzlich unter Symptomen wie Magenbrennen leiden». Kein Zufall: Astra-Zeneca verkauft das Medikament Nexium gegen Sodbrennen.

Killer Nummer eins: der Tod

Sogar Menschen, die von all diesen Krankheiten bisher verschont geblieben sind, so erweckt die Gesundheitsindustrie den Anschein, müssten sich behandeln lassen. Sie lebten höchstwahrscheinlich nur deshalb unbeschwert, weil sie nicht wüssten, wie prekär es um ihre künftige Gesundheit stehe. «Wussten Sie, dass jede dritte Frau über fünfzig einen Knochenbruch wegen Osteoporose erleidet?», fragt etwa die Arbeitsgemeinschaft Osteoporose, die ihren Internetauftritt von Novartis finanzieren lässt. Und die Schweizerische Herzstiftung, ebenfalls von Novartis unterstützt, forderte 1999 eine «intensive Medienarbeit», um das Bewusstsein der Frauen für den «Killer Nummer eins», nämlich Herz-Kreislauf-Krankheiten, zu stärken. Die Kampagne prangerte den «Hormonmangel» an und empfahl damals eine Hormonersatztherapie, die heute als fragwürdig gilt.

Eines Tages hört das Herz bei jedem Menschen auf zu schlagen, und der Kreislauf bricht zusammen. Alt werden ist ein Risiko, das todsicher mit dem Tod endet, selbst wenn der Einsatz gegen dieses Risiko noch so gross ist. Schon heute erzielt die Gesundheitsindustrie einen Viertel ihres gesamten Umsatzes von über fünfzig Milliarden Franken jährlich mit Behandlungen während der letzten zwölf Monate des Lebens.

Manche Gesunde verleitet die neu geweckte Angst vor dem «Killer Nummer eins» dazu, dem ärztlichen Rat zu folgen und ihre Herzkranzgefässe mit einem Katheter untersuchen zu lassen. Die vielen Waadtländer Herzchirurgen führen solche Eingriffe zehnmal häufiger durch als die Ärzte im Kanton Sankt Gallen. Trotzdem sterben die Waadtländer nicht seltener an Herzkrankheiten. Doch die Herzstiftung informiert weiterhin so, als könne man den «Killer Nummer eins» ausrotten: «An Herz-Kreislauf-Krankheiten sterben doppelt so viele Frauen wie an allen Formen von Krebs zusammen.»

Diese Verharmlosung der Tumore wiederum gerät denjenigen in den falschen Hals, die ihren Lebensunterhalt mit Krebsfrüherkennung, Krebsoperationen, Chemotherapie und Bestrahlungen verdienen. Bei der Häufigkeit von Brustkrebs halte die Schweiz «im europäischen Vergleich eine Spitzenposition», schreibt die Krebsliga. Sie fordert Millionen für flächendeckende Röntgenuntersuchungen zur Früherkennung und für die Forschung.

Nicht zu vergessen die Männer zwischen fünfzig und siebzig, die sich «bewusst sein müssen, dass Prostatakrebs die zweithäufigste Todesursache ist», wie Franz Recker, Urologe am Kantonsspital Aarau, warnt. Die erzeugte Angst zeitigt die erwünschten Folgen: Viele Männer unterziehen sich sogenannten PSA-Tests, um Prostatakrebs frühzeitig zu erkennen. Eine frühzeitige Diagnose hat jedoch nur Sinn, wenn sie hilft, das Leben zu verlängern. Dafür gibt es beim Prostatakrebs keinen Beweis. Hingegen müssen viele Männer wegen vorzeitiger Prostataoperationen länger mit Impotenz und Inkontinenz leben. Das Abwägen zwischen Nutzen und Risiken falle «negativ» aus, weshalb der PSA-Test zur Früherkennung «nicht geeignet» sei. Zu diesem Urteil kommt die Stiftung Warentest in ihrem Aufklärungsbuch «Untersuchungen zur Früherkennung». Regelmässige PSA-Tests lehnen auch Ärzteverbände in den USA ab.

Arbeit mit der Angst

Der dominierenden Prostata- und Brustkrebsdiskussion setzen Darmspezialisten eigene Alarmrufe entgegen: «Darmkrebs ist der dritthäufigste Krebs, der zweithäufigste Tumor bei der Frau, und jeder zweite Darmkrebs endet tödlich!» Solche Schlagzeilen übernehmen Medien wie die Sendung «Puls» des Schweizer Fernsehens unbedacht, um ihr Publikum zu fesseln.

Krankheiten würden mit Hilfe der Medien derart dramatisiert, dass «immer mehr Menschen in ständiger Angst leben», bilanzierten Experten an einem Münchner Symposium über die «Instrumentalisierung der Angst im medizinischen Bereich». Die Angst führe zu einem «eklatanten Anstieg im Verbrauch von Psychopharmaka», sagte der Hamburger Medizinprofessor Volker Fintelmann, ein Kritiker der Schulmedizin. Er forderte die Ärzte auf, sie sollten den Patienten die «Angst nehmen und nicht mit der Angst arbeiten». Der Ökonom Gianfranco Domenighetti, Chef des Tessiner Gesundheitsamts und Professor an der Universität der italienischen Schweiz, spricht von einem Leerlauf: «Wir geben Milliarden für ein Gesundheitssystem aus, das die Leute gesund machen soll. Gleichzeitig macht dieses System permanent Millionen zu neuen Kranken.»

Zum Beispiel, indem einfach die Behandlungsschwelle herabgesetzt wird: Im Jahr 2001 hat man in den USA die Cholesterin-Richtwerte so gesenkt, dass 23 Millionen Personen, die zuvor als gesund galten, von einem Tag auf den andern zu Risikopatienten wurden. Vorher schluckten 13 Millionen US-Amerikaner cholesterinsenkende Mittel. Seither sind 39 Millionen dazu aufgerufen, es zu tun, Tag für Tag, Jahr für Jahr. «Viele Milliarden zusätzliche Behandlungskosten», stellte der Präsident der Gesellschaft für Herzchirurgie fest.

Auch in der Schweiz verschreiben immer mehr Ärzte Cholesterinsenker bereits bei einem relativ niedrigen Spiegel. Immerhin ist die Schweizerische Gesellschaft für Kardiologie nicht mehr auf Cholesterin-Grenzwerte fixiert, sondern gewichtet andere Risikofaktoren wie Übergewicht, Bewegungsarmut, Rauchen oder familiäres Risiko und Alter ebenso hoch. Die meisten Wissenschaftler sind sich nämlich einig: Bei einem hohen Infarktrisiko bringt es viel, den Cholesterinspiegel medikamentös zu senken. Bei einem kleinen Gesamtrisiko dagegen überwiegen die Nebenwirkungen.

Nicht nur mit cholesterinsenkenden Mitteln, sondern auch mit Medikamenten gegen zu hohen Blutdruck erzielen die grossen Pharmakonzerne wachsende Milliardenumsätze. Ihr Interesse an möglichst tiefen Grenzwerten ist evident. Noch Ende der achtziger Jahre galten Blutdruckwerte erst ab 160/100 als behandlungsbedürftig. Richtlinien der Schweizerischen Hypertonie-Gesellschaft, deren Sekretariat von der Firma Roche betrieben wird, empfehlen seit den neunziger Jahren Medikamente bereits ab einem Wert von 140/90. Damit hat sich die Zahl der Kranken mehr als verdoppelt. Die Pharmafirmen hätten sich keinen besseren Werbespot erträumen können als die fette Blick-Schlagzeile: «Bluthochdruck: 1 Million Schweizer in Gefahr». Die «Ahnungslosen» würden «dringend» Medikamente brauchen. Denn schon «kleine Abweichungen» vom idealen Blutdruck seien «schädlich».

Wenn sich alle Ärzte und Patienten an den Wert von 140/90 halten, muss ein Viertel aller Erwachsenen jeden Tag blutdrucksenkende Medikamente einnehmen. Doch damit nicht genug. Es gibt nämlich nochmals so viele Erwachsene, die einen Wert zwischen 120/90 und 140/90 erreichen. Auch Menschen in diesem «Vorstadium» sollte man behandeln, sobald noch weitere Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Krankheiten vorliegen, sagt heute die Pharmabranche. Zur Definition der weiteren Risikofaktoren haben Novartis, Merck und Sankyo der Amerikanischen Gesellschaft für Bluthochdruck 75 000 Dollar bezahlt. Weitere 700 000 machten die drei Firmen locker, um die neuen Kriterien bekannt zu machen. Das berichtete vor kurzem die New York Times, und sie meinte, die Pharmafirmen sollten aufhören, neue Krankheiten zu definieren. Novartis-Sprecher John Gilardi sieht «keinen Interessenkonflikt». Die Industrie übe «keinen unangebrachten Einfluss» aus.

Das gleiche Spiel wiederholt sich mit der Knochendichte. Neue Richtwerte für die optimale Knochendichte hätten Pharmafirmen ermöglicht, die Hälfte der Bevölkerung ab vierzig bis ins hohe Alter mit Medikamenten zu versorgen, schreibt Jörg Blech, Autor des Buchs «Die Krankheitserfinder». Bereits eine kleine Änderung der ziemlich willkürlich bestimmten Normwerte machen weitere Hunderttausende zu lebenslangen Risikopatienten.

Und trotzdem halten sie sich hartnäckig, die gesunden Menschen, die alle noch so eng gefassten Normwerte erfüllen und durch die Maschen aller noch so grosszügig definierten Diagnosen fallen. Ihnen bietet die Medizin eine Reihe neuer Krankheitsbilder an: sexuelle Dysfunktion bei Frauen zum Beispiel oder Wechseljahrprobleme bei Männern. Für die Ringier-Zeitschrift Gesundheit Sprechstunde genügt es, dass sich das Sexualverlangen etwas abschwächt oder dass Erektionen etwas weniger kräftig sind, um einen Arzt aufzusuchen. «Mit einer Testosteronersatz-Therapie leben viele Männer besser», zitiert sie Christian Sigg, den Präsidenten der Schweizerischen Gesellschaft für Andrologie. Und vielleicht, sagte Sigg, sinke sogar das «Risiko, an Alzheimer zu erkranken».

Pillen gegen Egoismus

Weitere fast schon «anerkannte» Krankheiten sind ein übermässiges Hungergefühl, zwanghafter Konsum oder die Internetabhängigkeit, für die es in den USA schon erste Kliniken gibt. Oder ein überhitzter Gemütszustand, gegen den in den USA eine Pharmafirma mit einer Sechzig-Millionen-Dollar-Kampagne das starke Schlafmittel Lunesta anpreist. Schlafmittel erzielten dort seit 2000 ein Rekordwachstum von sechzig Prozent. Gegen «körperliche Ermüdung» unter jugendlichen Snowboardern empfiehlt Novartis «mehr Energie» mit Gly-Coramin. Der Erfolg ist garantiert, steht doch eine Substanz dieses Aufputschmittels (Nikethamid) auf der offiziellen Dopingliste. Gegen simple «momentane Übermüdung» verschreiben einige Ärzte das starke Stimulans Modasomil, wie eine Stichprobe des Magazins Gesundheitstipp zeigte. Die US-Herstellerin Cephalon wirbt damit, dass man mit Modasomil sogar bis zu 48 Stunden wach bleiben könne, ohne dass man hinterher den Schlaf aufholen müsse.

«Gähnen und Schwitzen werden nur deshalb nicht zu Krankheiten erklärt, weil es dagegen noch kein Medikament gibt», spottete der Wissenschaftsjournalist Reto Schneider in einem Artikel über die Tendenz der modernen Medizin, uns kollektiv krankzuschreiben. Pillen gegen Empathiemangel, Egoismus, Anpassungsstörungen, Katerstimmung oder schlechte Laune sind in Entwicklung.

Sobald es Medikamente gegen Alzheimer und Demenz gibt, sollen diese die geistigen Fähigkeiten auch von Gesunden erweitern. Alle nur durchschnittlich Begabten können dann als Patienten behandelt werden. Diese Fachrichtung hat bereits einen Namen: «Kosmetische Neurologie». Sie hofft auf Hilfe der Gen- und Nanotechnik. Der US-amerikanische Neurologe Zack Lynch prophezeit, dass die Menschen ihre emotionalen, intellektuellen und spirituellen Fähigkeiten sowie «andere menschliche Beschränktheiten» bald erweitern können. Um die Supergesundheit zu erlangen, braucht es neuerdings einen persönlichen Risikoraster. Präzise Gentests schon vor der Geburt, während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt sollen für jeden Menschen individuell voraussagen können, welche besonderen Gesundheitsrisiken ihn belasten werden.

Die isländische Firma DeCode Genetics hat die Genvariante TCF7L2 entdeckt, die bei fast vierzig Prozent aller Menschen vorkommt und die das Risiko, zuckerkrank zu werden, um den Faktor 2,5 erhöhe. Trotzdem bleiben Diabetesspezialisten skeptisch. «Die entscheidenden Ursachen der Zuckerkrankheit sind zu viel Speck und zu wenig Bewegung», sagt Stephan Martin vom Diabetes-Forschungszentrum Düsseldorf. Tatsächlich kann es nicht an den Genen liegen, dass es heute siebenmal mehr Zuckerkranke gibt als noch in den sechziger Jahren. Das entdeckte Risiko-Gen für Diabetes wird erst mit dem Überessen und der Bewegungsarmut zu einem Problem. Trotzdem steht für Arne Pfeufer vom Institut für Humangenetik des GSF-Forschungszentrums bei München fest, dass die Forschung bis in fünf oder zehn Jahren noch viel mehr solcher Risiko-Gene dekodieren wird. Jeder kennt dann seine besonderen Risiken. «Je früher die Prädisposition für eine Krankheit erkannt wird, umso besser sind die Chancen für eine wirksamere Prophylaxe», lautet eine Botschaft von Roche.

Wenn Wissen schadet

Als Trost oder Hoffnung für die von Risiken Betroffenen verspricht Roche-Chef Franz Humer «massgeschneiderte Medikamente, von denen wir genau wissen, bei wem sie wie wirken». Bis es sie gibt, dürfte es allerdings noch dauern. Und solange es keine wirksamen Arzneien gegen bestimmte Risiken gibt, bringt das Wissen um diese Risiken mehr Schaden als Nutzen. Selbst wenn neue Therapien auf den Markt kommen: Wer soll die Langzeitrisiken beurteilen? Sollen Eltern ein Kind behandeln lassen, das ein um zwanzig Prozent erhöhtes Risiko hat, in einigen Jahrzehnten an Darmkrebs zu erkranken? Sollen Eltern, wenn eine Präimplantations-Diagnose eine Prädisposition für Depressionen ergibt, mit einer genetischen Manipulation einverstanden sein? Oder mit einem Gen-Eingriff, der eine höhere Intelligenz verspricht?

Für den 81-jährigen Linguisten und Publizisten Wolf Schneider ist dies eine Horrorvorstellung. Er möchte genussvoll essen und trinken, seinen Cholesterinspiegel ignorieren und seinen Darm ungespiegelt lassen, und zwar ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Im Voraus zu erfahren, wann und woran er sterben wird, wäre für ihn «eine grauenvolle Einbusse an Lebensqualität». Schneider fragt: «Wenn wir nicht der 'Volksseuche' Herztod erliegen dürfen, sollen wir dann lieber an Krebs sterben ­ mit dem Risiko, dass das Sterben wahrscheinlich langwieriger, schmerzlicher und ekelhafter sein wird?» Auf seiner Todesanzeige könne stehen: «Unser Vater, Grossvater, Lehrer und Freund ist ungespiegelten Darmes, ohne PSA-Tests und ohne täglichen Hormonersatz gestorben.»

Quelle:

 http://www.weltwoche.ch/ 06.07.2006; Seite 30; Nummer 27




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